Wie entstehen kollektive Erzählungen? Durch ständige Rezeption? Solange bis sich einige Individuen, die sich nicht mit einem bestimmten Narrativ identifizieren können, dagegen auflehnen und es ändern wollen? Kritiker*innen bewerten den Begriff „Narrativ“ als inflationär – als hätte die Hinterfragung tradierter Narrative nicht drängende Relevanz. Und dann gibt es ja nicht nur kollektive Erzählungen und Erinnerungen einer Gesellschaft, sondern auch individuelle von Einzelpersonen, die durch subjektive Erfahrungen geprägt werden. Die Frage, die die Ausstellung ‘Cloudy with a Chance of Coconuts’ im Portikus bei mir insbesondere auslöst, ist: welche Rolle spielen subjektiven Erinnerungen bei der Entstehung von Erzählung? Welche Art von Geschichte verknüpfen die Besucher*innen mit der Kulisse und was kann diese über das Leben der beiden Künstler*innen erzählen? Den Terminus Kulisse benutze ich bewusst – handelt es sich um eine Ausstellung der philippinischen Film- und Medienkünstler*innen Shireen Seno und John Torres, die vor allem für ihre Filmprojekte bekannt sind und diese die "eigentlichen Kunstwerke" darstellen.
Die Ausstellung besteht aus zwei Komponenten: die objekthafte Präsentation auf der einen Seite und die wöchentlichen Screenings, bei denen abwechselnd Filme von Seno und Torres gezeigt werden auf der anderen. Ein kleiner Verweis auf den filmischen Bestandteil wird schon im environment-artigen Ausstellungsraum gegeben: lässt man aufmerksam den Blick schweifen, entdeckt man in einer Ecke der sonst eher raumgreifenden Installation ein an der Wand installiertes iPhone, auf dem ein tonloses Video im Loop läuft. Dieses zeigt Aufnahmen einer Live-Cam, die Palmen filmt – Palmen, die große Ähnlichkeit haben mit denen, die in großen Töpfen neben einem geparkten Toyota Corolla KE25 im Ausstellungsraum stehen. Auf dem Boden liegen einige Kokosnüsse verstreut und etliche hängen an Schnüren von der Decke – eine Referenz zum deskriptiven Ausstellungstitel ‘Cloudy with a Chance of Coconuts’. Dass die Geschichte, die hier erzählt wird, womöglich etwas mit Kokosnüssen, die auf das Auto fallen und dieses dabei demolieren, zu tun hat, kam mir gleich in den Sinn. Allerdings fragte ich mich auch, was das meinen mag?
Bei einer kürzlichen Lektüre von Jean-Francois Lyotards Essay Der Augenblick, Newman (aus Das Inhumane, 1984) fiel mir eine Passage auf, in der der Autor die Theorie aufstellt, dass ein Bild selbst ein Ereignis sei – ein Augenblick, der geschieht. Obwohl Lyotard sich konkret auf Bilder des abstrakten Expressionisten Barnett Newman bezieht, erging es mir ähnlich beim Betreten von Torres und Senos filmischen Settings: als würde man einen Raum betreten, der geschieht oder in dem etwas geschehen ist. Als wäre man in eine Geschichte gestolpert, die gerade vorbei ist oder in Kürze beginnen wird. So steht die Ausstellung in passender Verbindung zu den Filmen, die einmal pro Woche «geschehen».
Die Vogelperspektive von der Empore des Portikus und das daraus entstehende Dispositiv verstärkt die Konnotation mit einer Kulisse oder einem Bühnenbild ungemein. Im Gegensatz dazu erlebt der Körper eine spannende Präsenz, wenn man sich durch die Installation hindurchbewegt – man ist plötzlich Teil der Kulisse und wird Akteur*in in der Geschichte, die hier aufgemacht wird oder die man selber darin sieht.
Vermutlich war genau das der Plot Twist für mich, als ich von den Filmen las, die in dieser Szenerie gescreent werden, die einerseits deutlich auf das Medium Film als solches verweist, andererseits aber nicht der tatsächliche Drehort ist. Es scheint als ob der Raum vorgibt etwas zu sein, das er nicht ist. Die meisten der gezeigten Filme spielen auf den Philippinen, so dass die Kulisse mit den Palmen und dem Auto plötzlich eine andere erweiterte Konnotation erfährt und doch sehr lebendig wird. Denn die Requisiten – um im Filmjargon zu bleiben – verweisen nicht nur auf das Land, in dem die Filme spielen, sondern auch auf die persönliche Geschichte des Paares. Eine Geschichte, die ich vielleicht in Ansätzen aus der Art der Präsentation der Gegenstände gelesen habe, die sich mir aber schlussendlich nur durch die Lektüre des Begleittextes und der Erzählung der Aufsichten erschlossen hat. Durch die Erzählung einer Erzählung. Verändert das nicht auch die „ursprüngliche“ Geschichte und ihre persönliche und intime „Wahrheit" – um mithilfe von Friedrich Nietzsche auf die Fragestellung vom Anfang zurückkommen: «Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, […] kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.»[1]
Themen, die in Ansätzen in den gezeigten Filmen wiederauftauchen, wenn es um die kulturelle Konstruktion von Geschichten geht. Die Frage, welche Art der Erzählung die Besucher*innen also verknüpfen, bekommt so noch eine ganz andere Ebene, in der es grundsätzlich um Narrative in Ausstellungskontexten geht, aber insbesondere um die Frage nach materiellen Werten. Was benötigen ständig auf Reisen seiende Kulturproduzent*innen überhaupt, wenn sie nomadisch von einem Ort zum anderen ziehen? Das ausgestellte Auto ist das gleiche Modell, das die Künstler*innen besaßen bevor es tatsächlich während einem Taifun in Manila von herabfallenden Kokosnüssen getroffen und dadurch beschädigt wurde. Danach kam für die Seno und Torres die Frage auf, was eigentlich wirklich wertvoll und was ersetzbar ist. Der Film auf dem iPhone im Ausstellungsraum zeigt Aufnahmen einer Live-Cam von sich im Wind wiegenden Palmen und baut so eine Brücke zu diesen Ereignissen, aber ist auch ein Verweis auf die Heimat, die die Künstler*innen immer wieder verlassen. ‘Cloudy with a Chance of Coconuts’ bewegt sich spielend zwischen dokumentarisch, autobiografisch und referentiell und zeigt, dass noch längst nicht jede Geschichte erzählt wurde, die wir hören müssen.
[1] Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873
John Torres & Shireen Seno – Cloudy with a Chance of Coconuts 19. Dezember 2019 – 2. Februar 2020
Portikus Alte Brücke 2 / Maininsel 60594 Frankfurt am Main