Der Titel der Ausstellung Shifting Baselines im Kunstverein Marburg ist einem Konzept aus der Umweltforschung entlehnt, das auf den Meeresbiologen Daniel Pauly zurückgeht. Es beschreibt Verschiebungen der Art und Weise, wie innerhalb eines Systems gemessen wird. Orientierungswerte werden dabei nicht nur physisch, sondern auch abstrakt fixiert, beispielsweise über Fragen nach den moralischen Vorstellungen unseres Handels. Festgehalten wird die Veränderung von a zu b meist über zeitliche Referenzpunkte wie Vergangenheit und Gegenwart, die als Baselines beschrieben wird
Auch in den raumgreifenden Objekten von Emilia Neumann und Urban Hüter finden sich Formen dieser Verschiebung, den sogenannten shiftings, wieder.
Emilia Neumann erkundet in ihren Arbeiten eben jene zeitliche Komponente und bemisst die Baselines neu. Im Erdgeschoss zeigt die Künstlerin, die an der HfG Offenbach Bildhauerei studierte, die Arbeit Ever growing Ruins (2019). Lose an die Wand gelehnt, setzt sich die Installation aus sieben fast raumhohen stelenartigen Einzelteilen, zusammen, die einer Form entstammen. Die Künstlerin erinnert mit der Zerstörung, mit der Zerteilung an den unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Emilia Neumann mischt in späteren Arbeiten nicht nur Gips, Beton oder Stützmaterial, sondern auch Farben in die Formschalen für den Abguss. Pigmente, aber auch Walnussextrakt oder Eisenspäne werden als erstarrte Farbverläufe konserviert und prägen die Oberflächen. Die Unkalkulierbarkeit der Oberflächengestaltung, wie auch mögliche Brüche während des Herauslösens der Objekte aus den Formschalen sind elementare Bestandteile ihrer Arbeitspraxis. Einmal ausgehärtet poliert die Künstlerin die Oberfläche ab, bis sie verheißend glänzt. Wertloses Material erscheint plötzlich hochwertig und wird so aus seinem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang genommen.
Die Herausforderung bei den Objekten liegt auch in ihrem Spiel mit einer bruchhaften Körperlichkeit, die es selbst zusammenzusetzen gilt. Im Obergeschoss zeigt Neumann die Installation Just Sayin: lose auf Maschendraht gebettet, ragen aus 20 Fundamentstümpfen verbogene abgenutzte Metallpfosten heraus. Lediglich die Oberfläche der Fundamente ist poliert und gibt spannende Farbverläufe preis. Es scheint als wären die Stümpfe einmal Teil eines hochwertigen Palazzobodens gewesen, dem sie zusammen mit den Pfosten gewaltsam entrissen wurden. Scheinbar zufällig türmen sich im Galerieraum die einzelnen Brocken zu einem Haufen. Emilia Neumanns Arbeiten durchzieht eine Ästhetik des Zerfalls, der in der Zerstörung zu etwas Sinnlichem wird. Darin manifestiert sich der paradoxe Zustand von rasantem Stillstand zwischen den gleichzeitig spürbaren Aggregatzuständen der Materialien .
Im Gegensatz zu den farbenfrohen Arbeiten von Emilia Neumann ist die Farbpalette von Urban Hüter etwas verhaltener. Seine Arbeit Anthropodizee (2017) besteht aus einer Ansammlung schwarzer und silberner Autoteile, die sich vor den Betrachter*innen zu einer Art anthropomorphen Form aufbäumen. Als Betrachter*in ist man mit einem visuellen Spannungsfeld konfrontiert, weil Erkennen und Entfremden in den präsentierten Formen und Materialien fließend ineinander übergehen. Mal entdeckt man in der monochromen Farbgebung eine lebendige Form, mal eine Art Panzer, oder ein florales Gewächs, das sich in die Höhe windet.
Das Auge springt, nach einem kohärenten Narrativ suchend, von Bruchstelle zu Bruchstelle. Der Blick verharrt an den Konturen vermeintlich vertrauter Formen, die sich aus der Tiefe einer undefinierbaren Masse heraus an die Oberfläche zu drücken scheinen – nur um gleichzeitig wieder in ihr zu versinken. Ausgemusterter Elektrogeräte, Kabel und Schläuche, vorgefundene industrielle Gegenstände dienen als Puzzlestücke, die zu einem neuen Gebilde erwachsen. Einerseits scheint alles miteinander verbunden und aus einem Guss entstanden, andererseits verbleibt die Verbundenheit, die Verwebung von Konkretem und Unkonkretem, von Kontur und Masse, für die Betrachter*innen unter der Oberfläche bezugslos ohne jegliche Narrative. Nach welchen Regeln wird hier gespielt? Das fragt man sich auch bei den mit Flüssigkeit gefüllten Objekten, blinde Fenster in eine ungreifbare Zukunft, die zur Installation There is no place like home (2019) gehören, die sich mal drehen, mal wie ein vollgepanzertes Ungeheuer aufbäumen.
Die Besucher*innen bewegen sich zu den Werken, zwischen den Werken und um die Werke von Emilia Neumann und Urban Hüter herum. Größe, Farbgebung verändern sich mit der Bewegung durch den Raum. Die permanente Änderung der Perspektive scheint die Baseline des Rundgangs zu sein: Neue Bezüge ergeben sich, Alte zerfallen. Die temporalen Koordinaten verdeutlichen einmal mehr die Komplexität und Vielschichtigkeit der Aussagemöglichkeiten. So laden die offenen Narrative dazu ein, die eigenen zeitlichen Setzungen immer wieder neu zu definieren und seine individuellen Baselines zu hinterfragen.