Durch Schichten schauen
Tracing Echoes
fffriedrich, Frankfurt
11–12–2019

'Tracing Echoes', 2019, exhibition view, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: fffriedrich, Frankfurt; photograph: Seda Pesen

Unser Gehirn ist ein riesiges Netz aus miteinander verbundenen Nervenzellen. Wird es durch äußere Reize angeregt, werden die einzelnen Zellen aktiviert, wodurch Reaktionen bei den jeweiligen verknüpften Nerven ausgelöst werden. Der Prozess der Erinnerung ist ein Resultat der Zusammenarbeit vieler Nervenzellen: Bilder, Ereignisse oder Erfahrungen, die sich in unser Gedächtnis einprägen werden durch Wiederholung des visuellen Reizes tradiert und manifestieren sich so in unserer persönlichen Erinnerung. Doch wie verhält es sich mit dem kollektiven Gedächtnis? Wie werden Erinnerungen an historische Ereignisse innerhalb einer Kultur produziert? Ähnlich dem Vorgang im Gehirn spielen die äußeren Reize und die einzelnen Verknüpfungen verschiedener Faktoren eine tragende Rolle. Visuelle Impulse werden von Generation zu Generation weitergegeben, um ein Bild von Geschichte hervorzubringen, welches sich dann im kollektiven Gedächtnis verankert. Der Frage, welche dieser Reize sich eingeprägt haben, und wie diese dazu führen, ein Bild von Vergangenheit aufrechtzuhalten, gehen die Kurator*innen Tarika Johar, Sarah Müller und Seda Pesen in der Ausstellung „Tracing Echoes“ im Projektraum fffriedrich nach. Gemeinsam mit den drei Künstler*innen Sonia Freida Knop, Estebán Sanchez und José Montealegre ist die Ausstellung ein Versuch, den Spuren der Vergangenheit nachzugehen, ihre Überbleibsel in der Gegenwart zu ergründen und eine mögliche Fiktionalität von Geschichte aufzudecken.

Sonia Freida Knop, Mood, 2019, installation view, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

Sonia Freida Knops Video Mood (2019) führt uns in die Tiefen des kolonialen Bildarchivs der Goethe-Universität. Umgeben von Büchern, grauen Wänden und grellem Licht wandert die Kamera durch Räume, die von der Außenwelt gänzlich abgeschottet zu sein scheinen. Einzig die Fenster, die den Blick auf umliegende Hochhäuser und den getrübten Himmel freigeben, bieten eine Verbindung nach draußen. Die Szene ändert sich. Die Kamera wechselt zwischen der Ansicht eines Hotelzimmers und Aufnahmen des Frankfurter Palmengartens. Leise stimmt im Hintergrund eine raue Männerstimme das Lied „Qué séra séra“ von Doris Day an. Verschiedene Scans sind im Raum verteilt, liegen ordentlich auf dem Bett und sind am Fenster befestigt. Jemand steht unter der Dusche, während der Kaffee aus der Maschine in die Tasse tröpfelt. Dazwischen Aufnahmen tropischer Pflanzen und Gewächshäuser. In Mood scheitert ein fiktiver Charakter beim Versuch, die Masse an Bildmaterial des besagten Archivs zu sortieren und so die tatsächlichen Ereignisse hinter den Artefakten aufzudecken. Der im Video unsichtbare Protagonist resigniert und begibt sich in einen Zustand der Verdrängung und Säuberung. Allein die Kamerafahrten über den Palmengarten zeugen von einer Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart und der Unmöglichkeit sich dieser zu entziehen: Wie in vielen europäischen Städten des 19. Jahrhunderts, legte man auch in Frankfurt in kolonialistischer Tradition einen botanischen Gärten an – heute mag Wenigen die historischen Implikationen des hübschen Bürgerparks bekannt sein. Knops Video ist eine Spurensuche nach den Überresten des Kolonialismus im öffentlichen Raum. Durch die Nebeneinanderstellung des Palmengartens und der Stimmungsbilder, zeigt Knop, dass die Überbleibsel der Geschichte sich nicht ohne weiteres ausradieren lassen, oder sich durch beschönigte Wahrheiten ersetzen lassen. Sie fragt wie unsere Zukunftsgestaltung von der Vergangenheit beeinflusst wird und stellt sich gegen Days‘ unbeteiligte Zeilen: „Qué séra séra, whatever will be, will be. The future is not ours to see. Qué séra séra.”

Estebán Sanchez, No Circles, But Spirals, 2019, installation view, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

Estebán Sanchez, No Circles, But Spirals, 2019, detail, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

In der Installation No Circles But Spirals (2019) widmet sich Estebán Sanchez der Überlagerung von Schichten historischer Ereignisse. Die mitten im Raum stehende Gabione enthält einen Haufen keimender Kartoffeln. Die Kartoffel – in Deutschland im 17. Jahrhundert als Nahrung gegen Hungersnöte eingeführt und seitdem in die kulturelle Identität einverleibt – stammt ursprünglich aus den Anden. „Papas“ genannt, dient ihr Name auch für die Bezeichnung kleiner Molotow-ähnlicher Bomben, die während der Studentenproteste in Kolumbien Einsatz fanden. Die Verbindung des metallenen Konstrukts und der grünlichen Knollen offenbart die Mehrdeutigkeit von Symbolen und die Konstruktion historischer Narrative. Wie auch Knop, zeigt Sánchez, die Machtstrukturen auf, die das Kollektivgedächtnis formen. Kulturelle Symbole werden angeeignet, und – wie die Kartoffel – in synthetische Konstrukte eingesperrt. Das Werk kann als Appell gelesen werden, den Käfig der Fiktion zu sprengen, um historische und gesellschaftliche Verstrickungen sichtbar zu machen. Innerhalb dieses Bezugsrahmens steht auch die Fotografie-Serie von Sánchez, die als Schablonen für vier kleine, quadratische Einschnitte in der Mauer des Ausstellungsraums dienten. Die Fotografien zeigen Aufnahmen der „Ciudad Blanca“, der Universität von Bogotá. Diese entstand Anfang des 20. Jahrhunderts im Zuge einer Modernisierungskampagne des Staates und wurde vom deutschen Architekten Leopold Rother erbaut. Während die Ansichten der Gebäude deutliche Bezüge zum klaren, formorientieren Stil des Bauhauses zulassen, erinnern die Graffiti bemalten Wände an die Studentenproteste, die dort seit Beginn der 2010 regelmäßig stattfinden. Modernistische Ideale treffen auf soziale Ungerechtigkeit. Schicht über Schicht überlappen sich hier Ereignisse verschiedener historischer Momente. Ähnlich wie die Graffitis brechen die 10x10 cm kleinen Einschnitte mit der weißen Wand. Sánchez greift in die vermeintliche Zeitlosigkeit und Glätte des White Cube ein sowie die Studierenden in Bogotá die Elfenbeintürme der Akademie einreißen.

José Montealegre, skin graft, 2019, installation view, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

Auch José Montealegre widmet sich mit seinen Werken der Überlagerung von Spuren der Vergangenheit. Der Titel skin graft (2019) beschreibt einen chirurgischen Eingriff, bei dem Teile der Haut entnommen, und an andere Stellen des Körpers eingesetzt werden. Für das gleichnamige Werk verwendete der Künstler TonflAuch José Montealegre widmet sich mit seinen Werken der Überlagerung von Spuren der Vergangenheit. Der Titel skin graft (2019) beschreibt einen chirurgischen Eingriff, bei dem Teile der Haut entnommen, und an andere Stellen des Körpers eingesetzt werden. Für das gleichnamige Werk verwendete der Künstler Tonfliesen, die einstmals Teil einer früheren Arbeit gewesen sind. Fußabdrücke, Schmutzrückstände und kleine Risse durchziehen die Oberfläche, aus der silberne Flechten aus Leinwandstoff zu wachsen scheinen. Sie versammeln sich vor allem um eine (scheinbar) ausgerissene Buchseite, die Teil der Assemblage ist. Diese ist geziert mit einer Fotografie von drei Säbeln und der darunterliegenden Bildunterschrift „*knaives“ – einem Neologismus der die Worte knives (engl. Messer) und naive miteinander verschmilzt. Bei dem Motiv kommen Assoziationen zu Expeditionen, Dschungelmärschen und Kolonialgeschichte in den Sinn. Eine antiquierte Waffe vergangener Kämpfe. Doch was vermag hieran naiv sein? Es ist der Irrglaube an das tradierte Narrativ eben jener Kämpfe und die mangelnde Skepsis an der Perspektive dieser Erzählungen. Wie der Titel bereits andeutet, stellt Montealegre aber auch infrage, ob man etwas je aus seinem eigentlichen Kontext entfernen und an anderer Stelle einfügen kann, ohne, dass es signifikante Auswirkungen hat.

José Montealegre, Empire, 2019, installation view, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

Auch die zweite Arbeit des Künstlers innerhalb der Ausstellung beschäftigt sich mit dieser Fragestellung. Empire (2019) ist eine gefundene Vakat-Seite, auf deren Fläche Monetealegre einen Buchstabensalat gedruckt hat und über dem das Wort Empire als Überschrift ragt. Versucht man in dem Chaos der Buchstaben eine Ordnung zu finden oder gar Worte zu identifizieren, scheitert man. In gleicher Weise wie die Ordnungssysteme der einstmaligen Kolonialmacht des „British Empire“ bei dem Versuch scheiterten, ihnen fremde Kulturen zu verstehen und stattdessen lieber ihre eigene darüberstülpten und lokale Sprachen stummschalteten.
Wie der Ausstellungstitel jedoch verrät, lässt sich die Stimme der Vergangenheit nicht ohne weiteres auf lautlos stellen. Wie ein Echo hallt sie noch lange Zeit nach, ist wohlmöglich zeitweise zwar kaum hörbar und vielleicht nur als leises Flüstern, dass den lauten Basston durchbricht – aber sie ist da und werden in dieser Ausstellung nicht nur hör-, sondern auch sichtbar. Es braucht kein Archiv, um historische Wahrheiten ans Tageslicht zu befördern, denn die Stimme wispert durch weiße Wände, begleitet uns beim Spazieren gehen, und entfaltet sich auf leeren Buchseiten. Es kommt nur darauf an, die Tonarten Schicht um Schicht freizulegen.

Estebán Sanchez, Ciudad Blanca, 2019, detail, fffriedrich, Frankfurt. Courtesy: the artist; photograph: Seda Pesen

Tracing Echoes
1. – 11. November 2019
kuratiert von Tarika Johar, Sarah Müller und Seda Pesen
artists
Sonia Freida Knop, José Montealegre und Esteban Sánchez
fffriedrich
Alte Mainzer Straße 4-6
60311 Frankfurt am Main