Manche Wege sind beschwerlicher als andere, das wird schon beim Blick auf die möglichen Verbindungen deutlich, die Google Maps vorschlägt, um zur Zieldestination zu gelangen. Ist die Strecke schlicht zu weit, um sie mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurück zu legen und es steht einem auch kein Auto zur Verfügung, folgt eine beschwerliche Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln; Verspätungen, Umstiege, Orientierungslosigkeit und aufsteigende Panik, die falsche Linie erwischt zu haben, inklusive. Schwer verletzt auf dem Sofa zu liegen, erscheint angesichts dieser strapaziösen Reise als die bessere Alternative, Schmerzen hin oder her. So oder so ähnlich könnte der Titel der Gruppenausstellung 'Schwer verletzt auf dem Sofa‘ im Schloss Freudenberg in Wiesbaden zustande gekommen sein, die im vergangenen Dezember Arbeiten von sieben jungen Künstler*innen präsentierte. Vielleicht geht es aber auch darum, wie beschwerlich der Weg zur eigenen Bildsprache sein kann.
Das Schloss Freudenberg, eine Villa aus dem 20. Jahrhundert, liegt idyllisch am äußersten Stadtrand der Landeshauptstadt, das Licht aus dem Inneren leuchtet verheißend einladend. Über die große Freitreppe geht es hinauf in die Beletage und von dort über ein unscheinbares Treppenhaus wieder zurück ins Erdgeschoss, wo sich die Ausstellung in den ansonsten vorwiegend mit Klangkunst-Objekten der hauseigenen Sammlung bespielten Räumlichkeiten befindet. Das vage Gefühl, dass an mancher Stelle Kompromisse gefunden werden mussten, eine Ausstellung in der Ausstellung entstanden ist, wird zum ständigen Begleiter, baut aber auch ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ort und den Werken der Künstler*innen auf, ohne dass letztere sich unterordnen müssen.
Die Räume sind unrenoviert, freigelegte Backsteinmauern treffen auf Wände, von denen sich langsam Tapete und Putz ablösen. Kabel, Schalter und Rohrleitungen liegen offen – ein Interieur, das der Blick von außen auf den herrschaftlichen Bau keineswegs andeutet. Geflieste Böden mit unterschiedlichen Mustern vervollständigen den „unfertigen“ Eindruck, vor dem sich hier die Kunst angesichts all den visuellen Eindrücken erst einmal behaupten muss. Gezielt eingesetzte Spots durchdringen die Dunkelheit, da alle Fensteröffnungen verschlossen wurden und fokussieren den Blick auf die Arbeiten, die sich wie Inseln daraus erheben.
Im Flur trifft man auf eine erste großformatige Fotografie Ohne Titel (2019) von Danijel Sijakovic, die ungerahmt mit Architektenklammern und Nägeln an die Wand gebracht wurde: Sie zeigt das Licht eines Scheinwerfers, das auf eine große Toreinfahrt fällt, und sich in den Metalllamellen und der regnerisch nassen Einfahrt spiegelt. Der Ort bleibt ungreifbar und lässt sich doch vermutlich so oder so ähnlich in jedem größeren westlichen Industriegebiet wiederfinden. Die Welt scheint für einen kurzen Moment zum Stillstand gekommen zu sein, bedenkt man, dass hier vermutlich tagsüber Waren angeliefert und abgeholt werden, Menschen ein- und ausgehen um Arbeit zu verrichten. Ein Stillleben vom Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und zugleich ein Portrait eines „Nicht-Orts“.
Der Parcours der Ausstellung führt weiter zu Rahel Sorgs Malerei Star Wars Schweiz (2019). Die Künstlerin zerlegt hier die Bildfläche mit Formen, die die Farbfläche mal zu durchtrennen, mal zu überlagern scheinen. Über eine monochrome graue Farbfläche schiebt sich von unten so etwas wie eine Bergkette, von oben krachen weitere Linien in den Bildraum hinein, wie ein Kampfgeschwader. Die Konturen lösen sich in dem brachialen Liniengewirr auf, die Spannung zwischen der durchtrennten monochromen Graufläche und den Überlegungen im unteren Bilddrittel ist fast greifbar.
Dem Rundgang folgend, gelangt man in eine erste Sackgasse, an deren Ende in einem kleinen Raum ein einzelnes Werk von Johanna Ehmke flach auf dem Boden liegt. Ohne Titel (2019) ist ein massives, grün pigmentierte Betonobjekt, das entfernt an den Buchstaben M erinnert und zu allen Seiten auszubrechen droht. Zurück im Flur fällt der Blick auf eine erste Zeichnung der Serie fire pen (2019) von Swan Lee; weitere verteilen sich überall in der Ausstellung, in Ecken, auf dem Boden, mal fußhoch an die Wand gekleistert, sind sie zu finden. Lose Striche über auslaufenden Farbfeldern verdichten sich zu figurativen Zusammenschlüssen, fast scheint es so, als würden sie über die Bildfläche Bewegungsabläufe ziehen, die in ihre Einzelteile zerlegt wurden.
Die Ausstellung setzt sich im Gewölbekeller fort, wo eine weitere Malerei von Sorg platziert ist (Holzlager, 2017). Die pastelligen Farben heben sich von der Backsteinwand ab und gehen in ihrer Formsprache zugleich eine Liaison mit dem Notausgangsschild ein, das in unmittelbarer Nähe ist. Julian Ernsts Objekte we consider ourself with stranger eyes (2019), die im gleichen Raum platziert sind, erinnern hingegen an Abgüsse tropische Rankpflanzen, die in Einzelteile zerlegt wurden – so liegt ein wurzelartiges Gebilde auf dem Boden und belaubte Äste finden sich an den Wänden. Nur einige wenige Objekte aus ungebranntem Ton, der mit Lacken überzogen wurde, haben es bis in den Keller geschafft, anders als die zumeist invasiven Vorbilder in freier Natur und intensivieren damit den Eindruck von Verlassenheit – ein Ort der wenig Raum lässt zum (Über-)leben.
Weiter geht es in den Raum, der am ehesten zu dem Setting einer klassischen Kunstausstellung passt; Malerei trifft hier in der direkten Gegenüberstellung auf Bildhauerei. Ein weiteres titelloses Objekt von Johanna Ehmke liegt dort mittig auf einem blauen knöchelhohen Sockel, ein Stück der tropfenartigen Form ist allerdings abgebrochen und ragt über die museal anmutende Präsentationsfläche hinaus. Die Bruchstelle verweist auf einen zurückliegenden Moment, in dem Fragmentierung einsetzte. Ruben Brückels Malerei Ohne Titel (2019) greift die Rasterung der Kachelstruktur des Bodens wieder auf. Bei Brückel ist das Raster allerdings amorph verzerrt, im oberen Drittel schiebt sich eine Farbfläche über das Raster, das bei genauem Hinsehen doch noch hindurch scheint. Zutage tritt der Arbeitsprozess, Schicht schiebt sich über Schicht, ohne sie gänzlich zu überlagern. Auch Swan Lees Geisterbilder psychicpic (2019) sind hier zu finden, wo der Blick zuerst auf die Konturen der Geister fällt, deren Darstellung man aus Comics oder Kinderbüchern kennt, und erst mit dem zweiten Blick werden dann die darunter liegenden Buchstaben deutlich, die Fragen der Künstlerin an die Geister formulieren. Das Medium aus der Zwischenwelt, wird hier nach seinem eigenen Dasein befragt und dient nicht nur als Sprachrohr in die Welt der Toten.
Der letzte der fünf Räume vermittelt den Eindruck eines Beckens, indem ein Gittersteg zur anderen Seite führt. Hierunter wird eine kurze geloopte Videoarbeit Resistance (2019) von Botond Nagy gezeigt, in der ein älterer Mann abwechselnd in seinem Zuhause und einem Schwimmbad gefilmt wird. Die Darstellung des Alltags kommt ohne erklärende Worte aus, der Mann zieht einsam seine Bahnen und Kreise, die Zeit verstreicht, ohne dass etwas Nennenswertes passiert. Die Positionierung der Videoarbeit unter der Treppe; die Idee von Schwimmen und der Raum als Becken ergänzen sich. Der Durchgang am Ende des Stegs ist wiederum versperrt, davor wurde noch eine letzte Arbeit von Swan Lee platziert. An diesem Punkt gibt es schließlich kein Fortkommen mehr, nur noch der Rückzug durch die bereits durchwanderten Räumlichkeiten steht zur Option. Im Irrgarten des Herrenhauses bleibt der Eindruck, dass Kunst weder laut, noch großer Gesten bedarf, um sich außerhalb des White Cubes behaupten zu können und dass beschwerliche Wege die sind, von denen es sich am meisten lohnt, sie zu gehen.
Schwer verletzt auf dem Sofa 20. – 24. Dezember 2019
artists Ruben Brückel Johanna Ehmke, Julian Ernst, Swan Lee, Botond Nagy, Rahel Sorg, Danijel Sijakovic