Spuren rassistischer Gewalt
Henrike Naumanns Rauminstallation ,14 Words'
Museum MMK für Moderne Kunst, Frankfurt am Main
03–02–2024
by Dalwin Kryeziu

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Henrike Naumann. Photography: Frank Sperling


Note: Der Artikel beschreibt rassistische Gewalt und den NSU-Komplex.


Eine leere türkisfarbene Ladeneinrichtung, neun Tierfelle, eine weiße Hand und zwei deformierte Blumenvasen – Henrike Naumann schafft mit 14 Words (2018) einen Tatort, der die Besucher*innen auf subtile Weise Teil einer rassistisch-motivierten Mordszenerie im Kontext des NSU-Komplexes werden lässt. 14 Words ist Teil der aktuellen Sammlungsausstellung Channeling des MMK Frankfurt. Ebenfalls Teil der Ausstellung ist die Arbeit 77sqm_9:26min (2017) von Forensic Architecture, die den Mord des NSU an Halit Yozgat rekonstruiert und die Assoziationen und Eindrücke von 14 Words intensiviert. Doch wie erleben von Rassismus betroffene Personen Naumanns Arbeit und welche Rolle nehmen sie darin ein?


Bereits in der Ausstellung Weil ich nun mal hier lebe (2018–2019) wurden beide Arbeiten zusammen in den Räumen des MMK TOWER gezeigt. Diese und andere künstlerische Positionen setzten sich mit strukturellem und institutionellem Rassismus in Deutschland auseinander und machten diese Gewalt sichtbar. In der aktuellen Ausstellung füllt 77sqm_9:26min den hinteren, spitz zulaufenden Raum im Erdgeschoss des MMK MUSEUM. Im Zentrum des Raums wird ein Film auf einer Leinwand gezeigt. Das internationale Rechercheteam von Forensic Architecture versucht darin, den Mord des NSU an Halit Yozgat zu rekonstruieren und reagiert dabei auf die Aussagen des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme. Yozgat – Besitzer eines Kassler Internetcafés – wurde am 6.4.2006 an seinem Arbeitsplatz erschossen. Temme, der zum Zeitpunkt des Mordes anwesend war, sagte aus, dass er weder den Mörder gesehen noch die Schüsse gehört habe. Ausgangspunkt von 77sqm_9:26min ist ein geleaktes Video, in dem Temme seinen Weg aus dem Internetcafé während des Mordes für die Polizei rekonstruiert, um seine Komplizenschaft zu widerlegen. Sein Weg endet damit, dass er ein 50 Cent-Stück auf den Tresen legt, nachdem er Yozgat angeblich nicht finden konnte – dieser lag zu dem Zeitpunkt tot hinter seinem Tresen. In ihrer Videoarbeit rekonstruiert das Rechercheteam nicht nur den Tatort, sondern mit Hilfe von Schauspieler*innen auch die Bewegungsabläufe des Mörders und von Andreas Temme. Seine Aussage ist von Widersprüchen und Unstimmigkeiten geprägt: In 77sqm_9:26min kommt Forensic Architecture zu dem Schluss, dass der damalige Verfassungsschützer höchstwahrscheinlich die Schüsse bemerkt hat, möglicherweise sogar auf den Mörder gestoßen ist und Halit Yozgat hinter dem Tresen gesehen haben muss. Die Recherchearbeit deutet darauf hin, dass Temme an dem Mord beteiligt war.

Forensic Architecture, The Murder of Halit Yozgat, 2021, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Forensic Architecture. Photography: Frank Sperling

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Henrike Naumann. Photography: Frank Sperling


Im dritten Stock des Museums – in einem Durchgangsraum, an dem Besucher*innen der Ausstellung kaum vorbeikommen – befindet sich Naumanns Arbeit 14 Words. Leere Regale und ein Tresen füllen den Raum aus, angestrahlt von grellen Rasterleuchten, wie sie in Büros oder im Einzelhandel üblich sind. Ohne inhaltliche Textverweise im Ausstellungsraum bestätigt erst ein Blick in das Booklet die Assoziation einer Ladeneinrichtung und verrät, dass es sich um einen einstigen sächsischen Blumenladen handelt, der in den Museumsraum überführt wurde. [1] In den nachfolgenden Zeilen wird näher auf den Titel der Arbeit eingegangen: 14 Words ist der Code für eine rassistische “Parole” von Neonazis und White Supremascists. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, welche Rolle die kleine weiße Porzellan-Hand auf einem Regal hat – Daumen und Zeigefinger formen einen Kreis und stellen das White-Power Symbol dar.


Erst im letzten Abschnitt des Booklettexts, der damit für die inhaltliche Erschließung der Arbeit zentral ist, wird auf den Zusammenhang mit den NSU-Morden eingegangen: Der Blumenladen soll daran erinnern, dass alle neun migrantischen Opfer selbstständige Unternehmer waren, die in ihren Geschäften ermordet wurden. Einige Elemente im Raum machen 14 Words selbst zu einem potentiellen Tatort. In einem türkisfarbenen Regal hinter dem Tresen steht eine weiße Vase. Während die eine Hälfte die typische Form einer Blumenvase aufweist, geht die andere in eine brutale, splitterartige und sich scheinbar ausdehnende Deformation über. Es scheint, als ob eine gewaltige Kraft auf das Gefäß einwirkt. Unter dem Namen Fast Vase als Designobjekt  bei der Porzellanmarke Rosenthal erhältlich, soll sie die Verformung eines flexiblen Körpers unter hoher Geschwindigkeit nachahmen. In Naumanns Inszenierung erzählt die Vase einen anderen, brutalen Moment. Denn hier ist es wahrscheinlich die Krafteinwirkung eines Schusses, die zur Verformung des Objekts führt. Eine andere Vase im Raum, die ein Loch in der Mitte ihrer zerbrechlichen Porzellanstruktur aufweist, verstärkt diese Assoziation. Die beiden scheinbar zerspringenden Vasen zeigen folglich genau den Moment, in dem die Schüsse fallen und damit den Augenblick des Mordes.

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Henrike Naumann. Photography: Frank Sperling

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Henrike Naumann. Photography: Frank Sperling


Außerdem wird eine Videoarbeit auf einem Röhrenmonitor im unteren Bereich des Tresens gezeigt. Um diese mit den daneben liegenden Kopfhörern anschauen zu können, müssen sich die Besucher*innen hinknien und verschwinden dabei hinter dem Tresen – versteckt man sich so vor den Schüssen, die in diesem Moment die Fast Vase hinter einem treffen? Diese Assoziation wird vor allem durch die gesehene Videoarbeit von Forensic Architecture verstärkt, in der die Position von Halit Yozgat hinter seinem Tresen eine zentrale Rolle spielt. Die weiße Hand, die die einzige menschliche, lebende Spur in Naumanns Szenografie bildet, vergegenwärtigt durch ihre Geste die Anwesenheit eines rassistischen Mörders. Neun türkis gefärbte Tierfelle sind über die Ladenflächen und auf den Rasterleuchten verteilt – welche gewaltige Kraft hat diese auf eine solche Höhe gebracht? Und können die neun Tierfelle als tote Spur der Opfer des NSU verstanden werden? „Kein 10. Opfer!" und die Aufklärung der Mordserie forderten die Angehörigen von Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat – Doch in 14 Words scheint ein weiterer Mord stattzufinden.

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST. Exhibition view, © Henrike Naumann. Photography: Frank Sperling


Objekte, Einrichtungen, Symbole – in Naumanns künstlerischer Praxis sind diese Träger von Ideologien, Vorstellungswerten, Emotionen und Gewalt. Aber 14 Words scheint noch viel mehr zu sein: Die Arbeit gleicht der Szenografie eines immersiven Theater, an dem die Besucher*innen bewusst oder unbewusst teilnehmen. Während man bei 77sqm_9:26min die wissenschaftliche Rekonstruktion des Rechercheteams aus einer außenstehenden Perspektive rezipiert und analysiert, tauchen die Besucher*innen in Naumanns Arbeit unmittelbar in das Geschehen ein. Die gesehenen Bilder aus 77sqm_9:26min – die Schüsse, die Position von Halit Yozgat, die Bewegungen des Mörders, das Gesicht eines vermeintlichen Komplizen - brennen sich in die Köpfe der Besucher*innen ein und werden in Naumanns Inszenierung hineinprojiziert. Somit verstärken sie die Wirkung und Eindrücke, die Naumanns Arbeit bei den Besucher*innen hervorruft. Durch die kleinen, subtilen Details und inhaltlichen Referenzen von 14 Words wird eine Umgebung zum Zeitpunkt eines Mordes geschaffen, in der die Besucher*innen eine Rolle einnehmen, die nicht für alle gleich ist. Der NSU-Terror oder auch der Anschlag in Hanau – rassistische Mörder*innen suchten gezielt Orte auf, in denen BIPoCs und Migrant*innen lebten und arbeiteten. Aufgrund der Drohmacht des rechten Terrors und des eigenen Erfahrungswissens müssen die Betroffenen tagtäglich Räume auf Gefahren und rassistische Gewalt befragen und meiden dabei bestimmte Orte und Plätze. Rechtsextreme in einer Frankfurter Polizeibehörde bestärken die Ängste in den öffentlichen Räumen einer Großstadt. Mit Naumanns Arbeit wird ein Raum mit solch einem Gefahrenpotenzial in den musealen Ausstellungsbetrieb platziert: Personen, die von Rassismus betroffen sind und Naumanns Arbeit mit ihrer situierten Erfahrung einordnen, wissen, dass in diesem rassistisch-motivierten Mordszenario die Schüsse auf sie gerichtet sind. Die Bedrohung, die in Naumanns Arbeit durch die Objekte und die Bewegung hinter dem Tresen simuliert wird, kann auf Betroffene viel intensiver und schmerzhafter wirken als auf Menschen, die diese alltäglichen Unsicherheiten, Sorgen und Ängste nicht erleben müssen – eine Perspektive, die in der bisherigen Rezeption und inhaltlichen Vermittlung von 14 Words nicht beachtet wurde. Während sich die Betroffenen in der Ausstellung Weil ich nun mal hier lebe auf die schmerzhaften Themen einstellen konnten, werden sie in der jetzigen Sammlungsausstellung unvermittelt damit konfrontiert – und können sich Naumanns Arbeit beim Durchschreiten kaum entziehen. Als Sammlungsstück des MMK birgt Naumanns Arbeit somit kuratorische Herausforderungen in der Platzierung und sensiblen Vermittlung im musealen Raum einer Frankfurter Kunstinstitution.


[1] Channeling (Booklet), Museum MMK für Moderne Kunst, 2023, Frankfurt am Main.




CHANNELING

23/09/2023 – 11/02/2024

With works by Jo Baer, Clive Barker, Éric Baudelaire, Lothar Baumgarten, Thomas Bayrle, Franco Bellucci, Joseph Beuys, Bill Bollinger, Marcel Broodthaers, Marcel Duchamp, Jana Euler, Hans-Peter Feldmann, Ceal Floyer, Forensic Architecture, Isa Genzken, Ralph Gibson, Robert Gober, Jack Goldstein, Emilie Louise Gossiaux, Dan Graham, Sky Hopinka, Jonathan Horowitz, Anne Imhof, Donald Judd, Isaac Julien, On Kawara, Christine Sun Kim, Jutta Koether, Louise Lawler, Park McArthur, Gustav Metzger, Henrike Naumann, The Night Climbers of Cambridge, Cady Noland, Albert Oehlen, Claes Oldenburg, Henrik Olesen, Dietrich Orth, Laurie Parsons, Charlotte Posenenske, Jeroen de Rijke / Willem de Rooij, Peter Roehr, Fred Sandback, Frank Schramm, Jack Smith, Lewis Stein, Beat Streuli, Sturtevant Larry Sultan & Mike Mandel, Martine Syms, Juergen Teller, Rosemarie Trockel, Abisag Tüllmann, James Welling, Adrian Williams, and Constantina Zavitsanos.


Curated by Julia Eichler and Lukas Flygare



MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST

Domstraße 10

60311 Frankfurt am Main