In Real Life
Götz Schramm
Neuer Kunstverein Gießen
10–02–2020

Götz Schramm, 'Café Deutschland I.R.L.', 2020, exhibition view, Neuer Gießener Kunstverein. Courtesy: the artist and Neuer Gießener Kunstverein

Vor einem überschaubaren Bungalow sprießt das kleinbürgerliche Idyll. Ein ehemaliges Kiosk-, Toiletten-, Umspann- und Wasserhäuschen am äußeren Rand des Gießener Friedhofs wird zum Neuen Kunstverein Gießen. Ein umfunktionierter Ort, ein Ort mit Geschichte, ein retro-Ort – gegenwärtig gefällft uns dieser Charme. Den einst stickigen Dunst des kleinen Mannes räumen wir auf, machen ihn zur trendigen Ikone – dies betrifft vor allem jenen Mann, den wir angeblich zur Zielscheibe unserer queeren, klimaökologischen und kapitalfeindlichen Anprangerungen gemacht haben. Dabei treten wir doch ganz freundlich auf, wir kommen mit guter Absicht und versuchen ihn zum Freund zu gewinnen. Seit Jahren mögen wir Retro. Wir sind Retro und bewegen uns in einer stilistischen Rückwärtsschleife, liebkosen das beige Futteral, die 60er Jahre Lampe und die LP. Und genau wie die 68er Generation, entlarven wir die hinterbliebenen Faschismen unserer Gesellschaft.
Doch ist hier etwas anders, diese Aufzählung scheint nicht ganz zu passen. Noch am ehesten werden mit der Ausstellung 'Café Deutschland I.R.L.' epidemische Faschismen entlarvt und kritisiert. Der Ausstellungstitel referiert an eine Idee Jörg Immendorfs Kunst und Politik zu einen, das I.R.L. steht für „In Real Life“ und beschreibt die Praxis beide Ebenen aktiv zu vereinen, wie es beispielsweise auch in der Veranstaltungreihe des Frankfurter Städel Museums praktiziert wird. Vernissage und Finissage (mit Talk) stellen so den Auftakt einer ganzen Veranstaltungsreihe dar.

Götz Schramm, Manche Dinge die Versteht ihr nie, Diversity- und Gendertheorievariable Größe, 2019-2020, Café Deutschland 4, 2019-2020 (v.l.n.r). Courtesy: the artist

Götz Schramm, 'Café Deutschland I.R.L.', 2020, exhibition view, Neuer Gießener Kunstverein. Courtesy: the artist and Neuer Gießener Kunstverein

Hinter rosa-lila verkleideten Fenstern scheint alles durch die Folie verpixelt und verschwommen, sozusagen „blurry“ und grell eingefärbt. Es ist eine Art Fremdstellung, eine Änderung des gewohnten Sehens. Mir kommen bei der Farbgebung – so klischeehaft es auch sein mag – als erste Assoziation queere und feministische Farbzuschreibungen in den Sinn. Ob es sich wohl um einen dezidiert nicht-heteronormativen Blick handelt?
Der Künstler Götz Schramm setzt sich mit gesellschaftspolitischen Phänomenen auseinander, wie den unterschiedlichsten Erscheinungen im Internet, nationalistischen Gefühlen und der jüngeren deutschen Geschichte. Seine Herangehensweise wird mit einem stark biographischen Bezug reflektiert und mit seiner Persönlichkeit verdichtet.

Götz Schramm, Leg Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte 2, 2019–2020, silprint on paper, 20 x 20 cm. Courtesy: the artist

So ist auch der 15-jährige Götz Schramm auf dem Bild Café Deutschland 4 (2019-2020) zu sehen. Fast verloren schwebt er im unteren Rand des Bildes – schwer zu sagen auf welcher der vielen Bildebenen er sich nun eigentlich befindet. Die erste Ebene besteht aus einem Faultier, das uns müde ansieht. Es kommt aus den endlosen Gewässern des Internets und avancierte zu einem virulent verbreiteten Meme. Nur, süß scheint es einen nicht anzusehen: Als riesenhaftes Getier, die Äuglein zusammengekniffen wirkt das Grinsen beinah hämisch. Man wartetet nur auf das Aufbloppen eines Spruchs, wo selbstzufrieden die eigene Produktivitätsverweigerung geäußert wird. Beinah stolz scheint es zu sein, wenn es nach dem Ausruhen erst einmal chillt. Sicher, unser weißer Mann vom Anfang des Textes hätte dafür wenig Verständnis übrig. Er ist stolz auf sein Bausparvertrag-erspartes Häuschen und seinen blauen VW, er predigt Ordnung und Sauberkeit. Doch auch in diesem Bild will Götz Schramm keine anarchistische „Ökodiktatur“ prophezeien und trotz spirituell angehauchter Raumerfahrung (Lila-Rosa Lichtfarbe) stellt er keine eskapistische Idylle vor.
Der weiße Mann muss keine Angst haben.

Götz Schramm, Leg Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte 1, 2019–2020, silprint on paper, 20 x 20 cm. Courtesy: the artist

Als Reminiszenz schwebt in der oberen Ecke ein roter Bundesadler als Symbol staatlicher Ordnung – allerdings stellt sich bei dem Höhenflug die Frage, ob nicht der Adler das Fliegen gelernt habe?
Egal wie, pauschal steht das Faultier und vielleicht auch der schwerelose Adler Exempel für die Kritik an vorausgesetzter Produktivität und gewünschtem Perfektionismus. Beidem zu trotzen oder es jedenfalls kritisch zu hinterfragen, ist Motivation dieser Arbeit.
Eine zweite Arbeit, die einen anderen Aspekt von Schramms Werk aufzeigt, ist Manche Dinge die Versteht ihr nie, Diversity- und Gendertheorie (2019-2020). Der Titel zitiert eine Zeile aus einem bekannten Christiane Rosiger Song. Die Arbeit besteht aus zwei kleinen Plastiken, aus dem Logo von Nike und dem der AfD. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen ist frappierend und veranlasste Nike vor einigen Jahren sogar zur Klage. Dass sich der Sportgigant politisch offen gibt und sich deutlich von radikal konservativen Strömungen distanziert, lässt die vermeintliche Aneignung der AfD plausibel wirken, wo sie selbst den Mief des Konservativen mit einer jungen Version alter Werte reartikulieren suchte. Nike wird dabei zum geeigneten Fundus für die Aneignung reaktionärer Werte: sportiv erscheint nun die Suche nach einer Alternative. Allerdings geht die sportliche Betätigung nach hinten, die Punkte werden rückwärts gezählt und am Ende wird ein bekanntes Muster nur neu aufgelegt: Erinnert sei hier an die Angst vieler Menschen vor der politischen Renaissance der 1930er Jahre.

Götz Schramm, Leg Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte 3, 2019–2020, silprint on paper, 20 x 20 cm. Courtesy: the artist

Diese Arbeit regt zu freien Assoziationen an, der Titel weicht einer eindeutigen Interpretation aus und gibt den Weg frei. Schnell bewegt man sich zwischen Ironie, Humor und bitterem Ernst. Schnell verflüssigen sich die Grenzen dieser Bereiche und wir finden uns mitten im Wortgefecht mit dem alten weißen Mann. Komm doch rüber, komm rein und schau es dir an... Wir tun dir nichts, wir wollen deine Privilegien unter uns aufteilen und unsere Sensibilität und das Wissen darum weitergeben. Das jedenfalls gewährt die Ausstellung auch über ihre räumlichen Grenzen hinaus mit ihrer Website.

Götz Schramm, 'Café Deutschland I.R.L.', 2020, exhibition view, Neuer Gießener Kunstverein. Courtesy: the artist and Neuer Gießener Kunstverein

Götz Schramm – Café Deutschland I.R.L.
25. Januar – 7. März 2020
Neuer Kunstverein Gießen
Ecke Licher Str./Nahrungsberg
35394 Gießen