Das Sichtbarmachen von Simultanitäten
Melike Kara
Kunstverein Göttingen
25–02–2020
by Louisa Behr

Melike Kara, düzgün baba, 2020, installation photograph (Phototex), 550 x 318 cm; textiles, various dimensions. Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Im Oktober 2019 marschierten türkische Truppen in Nordsyrien ein, um die Gebiete, die durch die kurdische YPD-Miliz vom IS befreit worden sind, unter ihrer Kontrolle zu bringen. Getarnt als Militäroffensive mit dem hoffnungsvollen Titel „Operation Friedensquelle“, war vielen Poltiker*innen schon zu Beginn bewusst, dass es sich hierbei vielmehr, um eine Invasion handelte. Ein weiterer Versuch des türkischen Präsidenten Erdoğans seine Macht zu demonstrieren und einen Autonomieanspruch der Kurden zu vereiteln. Ein Teufeldkreis aus dem sich das kurdische Volk schwer zu befreien scheint.
Mit größter Dringlichkeit widmet sich die Künstlerin Melike Kara in ihrem Werk immer wieder kurdischen Traditionen und verwebt hierbei auch ihre persönliche Familiengeschichte. ‘No Friends but the Mountains‘, Karas jüngste Ausstellung im Kunstverein Göttingen, ist eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Verdrängung und Heimatlosigkeit. In Anbetracht der tragischen politischen Entwicklungen und der Situation der kurdischen Bevölkerung, die immer wieder vertrieben wird und deren Wunsch nach Autonomie stetig wächst, lässt Kara nicht nur ihre Familiengeschichte in die Ausstellung einfließen, sondern beschäftigt sich auch mit dem kollektiven Vermächtnis einer Kultur.

Melike Kara, düzgün baba, 2020, installation photograph (Phototex), 550 x 318 cm; textiles, various dimensions. Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Melike Kara, Rituals, 2020, photographs on transparent foil, each 41,5 x 69 cm (upper) /each 49,5 x 181 cm (lower). Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Im Kunstverein zeigt sich diese Auseinandersetzung bereits in der Präsentationsweise der Kunstwerke, die mit der Architektur verschmelzen zu scheinen. Mit größter Sorgfalt ist beispielsweise die Fotoserie Rituals (alle Werke, 2020) in die Fenster eingepasst, doch am stärksten zeigt sich diese Symbiose anhand der Installation düzgün baba. Bestehend aus einer Fotografie des gleichnamigen Bergmassivs, die sich über die gesamte Wandfläche erstreckt und geknoteten Textilien, die von der Decke hängen, nimmt die Arbeit den gesamten Raum ein und bildet das Herzstück der Ausstellung. Jene Fotografie zeigt das Bergmassiv Düzgün Baba in der Nähe der türkischen Stadt Nazımiye, wo auch Karas Familie herkommt. Der Ort ist eine alevitische Pilgerstätte, die den Menschen Heilung und Segen bringen soll und die dort vollbrachten Rituale spielten auch eine wichtige Rolle für die Familie der Künstlerin, die Schamanen waren.
Traditionell wurden auf dem Berg die Hörner geopferter Tiere und ineinander geknotete Textilien niedergelegt, wie man sie auch in Karas Installation wiederfindet. Letztere enstammen aus dem Nachlass ihrer Großmutter. Mit den Bergen verbindet die Künstlerin jedoch nicht nur ihre persönliche Familiengeschichte, sondern die einer ganzen Bevölkerung, denn die Berge diente lange Zeit als Rückzugsort für die vertriebenen kurdische Bevölkerung, die Schutz suchte. Mit diesem Wissen entfaltet das kurdische Sprichwort und der Namensgeber der Ausstellung ‘No Friends but the Mountains‘ eine ambivalente Bedeutung, die in gleicher Weise Verbundenheit und Vertreibung suggeriert.

Melike Kara, Dayê dayê, 2020, installation fabric, plastic, acrylic, latex, wire, acrylic paint on wall, steel nails, wooden construction, earth, debris, various dimensions. Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Melike Kara, Dayê dayê, 2020, installation fabric, plastic, acrylic, latex, wire, acrylic paint on wall, steel nails, wooden construction, earth, debris, various dimensions. Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Immer wiederkehrend in Melike Karas Arbeiten ist der Aspekt von sich verändernden Erinnerungen und Erzählungen. Im Ausstellungstext der Kuratorin Tomke Braun heißt es hierzu: „[Kara] fragt nach der Bedeutung und dem Stellenwert von Erinnerungen für unser Dasein und wie sich Vergangenheit in der Gegenwart fortschreibt.“ Was passiert mit kollektiven Ritualen und Erinnerungen, wenn die Orte der Ausübung nicht mehr verfügbar sind? Wenn Pilgerstätten nicht mehr zugänglich sind, weil die Bevölkerung vertrieben wurde? Mischt sich in ein kulturelles Vermächtnis nicht auch ein unfassbarer kollektiver Schmerz, welcher genauso wie Traditionen über Generationen hinweg getragen werden kann? Kara scheint letzteres mit der Installation Dayê dayê, der in der Ausstellung ein ganzer Raum gewidmet ist, zu bejahen. Die Arbeit zeigt eine Grabkonstruktion aus aufgeschütteter Erde und einzelnen darauf platzierten Blumen. Dahinter prangt der Text eines Wiegenliedes, der mit Nägeln an die Wand geschrieben ist. Der Text ist in Zazaki verfasst, einer Sprache, die vorrangig von alevitischen Kurden in der Dersim-Region gesprochen wird und aufgrund mangelnder Überlieferung immer mehr in Vergessenheit gerät. Kara lernte das Lied noch von ihrer Großmutter. Indem die Künstlerin verloren geglaubtes Wissen – sei es in Form von Ritualen oder Sprachen – in den Ausstellungsraum zurückholt, plädiert sie nicht nur für die Weitergabe von diesem, sondern ergänzt es auch um heutige Diskurse.

Melike Kara, for all what matters, 2020, oil crayon, acrylic on canvas, 180 x 160 cm. Courtesy: the artist and Peres Projects, Berlin; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Melike Kara, new beginnings, 2020 (left), oil crayon, acrylic on canvas 200 x 180 cm. Courtesy: the artist and Arcadia Missa Gallery, London; Melike Kara, Over time, 2020 (right), oil crayon, acrylic on canvas 220 x 180 cm. Courtesy: the artist and Jan Kaps, Cologne; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Der letzte Raum führt mit den großformatigen Malereien new beginnings, Over Time und for all what matters ein weiteres Medium in diese mannigfaltige Ausstellung ein und zeigt, dass die mediale Vielfalt, derer sich Kara bedient, auf eine Pluralität von Betrachtungsweisen anspielt. Dies findet sich auch als Motiv in ihren Malereien wieder: im kubistischem Stil ordnet die Künstlerin Figuren nebeneinander im Bildraum an und befreit die Dargestellten von jeglicher Zuordnung mittels Herkunft, Alter oder gesellschaftlichen Geschlecht. Durch die zusätzliche Loslösung von Perspektive erfolgt eine Ent-Hierarchisierung der Figuren. Die stilistische Annäherung der Gemälde an den Kubismus erinnert an die Überlegungen des Kunsthistorikers Karl Ruhrberg über die Künstler*innen dieser Stilrichtung: „Sie brachen den Gegenstand auf, sie zerstörten sein Volumen und die vorgetäuschte Körperoberfläche, sie betrachteten einen Tisch, einen Stuhl, eine Vase, ein Glas oder auch einen Menschen nicht länger nur von einem Blickpunkt aus, sondern unter vielen Gesichtswinkeln. (…) Dieser Vorgang bewirkte schließlich die Simultandarstellung verschiedener Realtitätsebenen.“[1] Ein Vorgang wie er sich auch in der Malerei von Melika Kara widerfindet. Simultanität ist hier jedoch nicht nur ein Werkzeug in ihrer Malerei, sondern lässt sich auch auf die gesamte Ausstellung beziehen. Immer wieder plädiert die Künstlerin in ihren Werken für Gleichzeitigkeiten – sei es bei ihren Materialien oder ihren Inhalten – und hat im Kunstverein so nicht nur einem Volk, das kein Land hat, einen Raum gegeben, sondern auch eine Einladung für ein Miteinander ausgesprochen.
[1] Ruhrberg, Karl / Schneckenburger, Manfred / Fricke, Christiane / Honnef, Klaus (Hrsgg.): Kunst des 20. Jahrhunderts, 1998

Melike Kara, deq, 2020, oil crayon on canvas, various dimensions. Courtesy: the artist; photograph: Marius Land © Kunstverein Göttingen/the artist

Melike Kara – No Friends but the Mountains
18. Januar – 23. Februar 2020
Kunstverein Göttingen
Gotmarstraße 1
37073 Göttingen