Paradoxien der Wahrnehmung
Claire Fontaine
SYNNIKA Space, Frankfurt
01–08–2019
by Naomi Rado

Claire Fontaine, OK NO, 2019, installation view, SYNNIKA Space. Courtesy: the artists and SYNNIKA Space

Während sich die einen, Kaffee schlürfend und unbekümmert, die belebte Szenerie der Niddastraße einverleiben, kratzen andere im vehementen Drang nach dem nächsten Schuss Dreck aus den Fugen der Pflastersteine. Ihre Hoffnung: zwischen den unbestimmbaren Relikten aus Abfall und Asphalt auch nur den kleinsten Brocken jener Substanz zu finden, die ihnen das Leid nimmt, welches sie in diese bizarre Heterotopie verschlagen hat. Im Frankfurter Bahnhofsviertel zeigen sich die frappierenden Ambivalenzen gesellschaftlichen Zusammenlebens und menschlicher Abgründe wie kaum andernorts in der Bankenmetropole am Main. Auch der Sozialvoyerismus hat mit rasant steigender Gentrifizierung neue Dimensionen angenommen, die wohl mit den „Offenen Tagen“ der Drogeneinrichtungen zur jährlichen Bahnhofsviertelnacht ihren Kulminationspunkt erreichen.
Hier, zwischen hippen Bars und Rotlicht, zeigt das feministische Kollektiv Claire Fontaine, das aus Fulvia Carnevale und James Thornhill besteht und sich selbst als „Ready-Made-Artist“ bezeichnet, die installative und ortsspezifische Arbeit OK NO (2019). Gemeinsam mit den Textarbeiten While You Read These Lines (2016), May Our Enemies Not Prosper (2016) und The Luxury of Making Sense (2018), die als mehrfarbig angesprühte Papierstapel auf Sockeln gestaltet sind, ist ein Neonzeichen zu sehen, das an Verkehrssymbole erinnert. Es ist im Schaufenster des Synnika Projektraums angebracht und zur Straße hin ausgerichtet. Entgegen der gängigen Verwendung der Farben ist jedoch beim Aufscheinen der Farbe Rot das Wort „OK“ zu sehen, „NO“ hingegen ist in grüner Kapitalschrift zu lesen. In der Dämmerung verschwimmen die Farben und Schriftzüge, beleuchten den angrenzenden Bürgersteig und beziehen den gesamten Ausstellungsraum in ihr diffuses Lichtspiel ein. Zuweilen bleiben einzelne Passanten kontemplativ vor dem großen Schaufenster stehen; das Neonzeichen als solches integriert sich gänzlich in die illuminierte Atmosphäre aus Trinkhallen, Handyshops und Etablissements.

Claire Fontaine, OK NO, 2019, installation view, SYNNIKA Space. Courtesy: the artists and SYNNIKA Space

Claire Fontaine, OK NO, 2019, installation view, SYNNIKA Space. Courtesy: the artists and SYNNIKA Space

Verbindet man die ausgestellten Texte mit dem Schriftzug „OK NO“, so wird schnell klar, dass es sich bei der Arbeit keineswegs nur um eine Anspielung auf Alltags- oder Werbetechnik handelt. Die BesucherInnen werden mit explizit politischen Themen konfrontiert. Die fragmentarischen Texte, die teilweise aus literarischen Zitaten, teilweise aus Berichten bestehen, sind um Kommentare von Claire Fontaine selbst ergänzt und adressieren die kriegsbedingte Migrationslage ebenso wie die Klimakrise, geschlechtliche Diskriminierung und politische Verfolgung. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht dabei immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen Kollektivität und Individualismus – das gesellschaftliche Ganze wird dem einzelnen Privaten gegenübergestellt. Dabei stellt die Verknüpfung von Fremdtext und Eigenproduktion nicht nur die Frage nach der Autorenschaft, sondern auch nach der Konstitution des Dokuments. Eine Kritik am Fehlen von Empathie und Gemeinschaftsgeist, die mit staatlichen Überwachungsmechanismen und der beständigen Ablenkung durch electronic devices und social media kompensiert werden, formuliert Claire Fontaine ex negativo. Sie ruft nicht wie die Agitprop zur Revolution auf oder beschreibt eine konkrete Utopie, sondern verweist allein durch die Gegenüberstellung von aktuellen Missständen und historisch-philosophischen Konzepten auf die Potenzialität der Gesellschaft.
Das reflexive Moment der intermedialen Arbeit ergibt sich vor allem durch das Zusammenspiel von Fakt und Fiktion. Claire Fontaine nimmt schriftlich Bezug auf tatsächliche Zeitgeschehnisse, zugleich schafft sie durch die raumgreifende Anlage und Umkehrung normativer Wahrnehmungsformen neue Deutungszusammenhänge. Text wird hier zu einer prozessualen, plastischen Arbeit: auf einen Sockel gehoben, wird sein Inhalt zum Sujet zweiter Ebene. Potenziert dadurch, dass das Lesen der Texte das Wegnehmen eines Blattes von einem der Papierstapel einfordert und so die Arbeit fortwährend zersetzt. Das Neonzeichen, bestehend aus nur zwei Farben und kombiniert mit nur zwei Worten, wird zur Projektionsfläche für die Betrachtenden. Das zustimmende „OK“ mit warnend aufleuchtendem Rot versehen, fordert das Publikum auf, den eigenen Konformismus zu reflektieren, während das grün geschriebene „NO“ ausdrücklich dazu einlädt etwas zu negieren. Dieser Widerspruch gilt jedoch nicht nur den Sachverhalten, die aus dem textlich Produzierten hervorgehen. Denn das Neonzeichen ist auf die jeweils singulär Rezipierenden ausgerichtet, die ihm durch das Schaufenster begegnen, wodurch individuelle und kollektive Erfahrung zusammenlaufen.

Claire Fontaine, OK NO, 2019, installation view, SYNNIKA Space. Courtesy: the artists and SYNNIKA Space

Claire Fontaine – OK NO
16 Juni – 1 August 2019
SYNNIKA Space
Niddastraße 57
60329 Frankfurt am Main