Wenn Nähe verschwimmt hinter Schalen
Esther Poppe & William Metin Martin
Labor Opelvillen Rüsselheim
18–02–2019
by Ellen Wagner

Esther Poppe & William Metin Martin, Skin...Order of Occurence and Things, installation view, 2018, Opelvillen Rüsselsheim; photograph: Danijel Sijakovic

„Das hätte eigentlich gar nicht wachsen sollen“, erklärt Esther Poppe und meint damit ein paar forsche Küchenzwiebeln, vergessen in einem Sack voll Blumenerde, die nun punktgenau ihre grüntreibenden Blätter selbstbewusst nach oben in den Ausstellungsraum strecken. Für William Metin Martin und Esther Poppe, die von Oktober bis Dezember gemeinsam im Labor der Opelvillen Rüsselsheim arbeiteten, ist dies die „lebendige Ecke“, die weder die Künstlerinnen noch uns Betrachtende braucht, um zu gedeihen. Oder: etwas auszubrüten. Mit im Sack liegt ein noch eingeschweißtes Exemplar der e-flux-Publikation What’s Love (or Care, Intimacy, Warmth, Affection) Got to Do with It?*, sein scheinbar errötendes Cover berührt flüchtig einen Rucksack, der über eine Produktbeschriftung als Schlafsacktasche ausgewiesen und an einer Schaufel aufgehängt ist. Assoziationen zwischen Gartenarbeit und Grabpflege drängen sich auf. Natur in Kunststoff präsentiert: Emotion gedruckt und einfoliert; treibende Zwiebeln in der Tüte; die Hülle eines Schlafsacks aus Synthetik, zum Übernachten auch im Freien, unterwegs und anderswo.
Die ganze Ausstellung ist getaucht in buntes Licht, das die Konturen verwischt, und voller Stillleben, in denen etwas aufeinander pappt. Treibende Bataten, aufgesockelt auf Einmachgläsern, werden arrangiert mit kristallinen Objekten und Stücken schmelzender Regenbogenseife, die Pfropfen auf ihrer Schale bildet. Hybride wachsen aus diversen Materialien zu noch unerforschten Koexistenzformen.
„Wir wollten auch Bohnen ziehen“, geben die KünstlerInnen zu – das Resultat: Eine silberne Servierplatte mit nassen Tüchern und aufgequollenen, doch nicht aufgegangenen Prunkbohnenkernen. Dennoch sind die Bohnen in ihrem angebrochenen Wachstumsprozess zentraler Teil der Ausstellung, in der es genau um solche nur scheinbar misslungenen Prozesse einer Transformation von Materialien und Referenzen geht.

Esther Poppe & William Metin Martin, Skin...Order of Occurence and Things, installation view, 2018, Opelvillen Rüsselsheim; photograph: Danijel Sijakovic

Esther Poppe & William Metin Martin, Skin...Order of Occurence and Things, installation view, 2018, Opelvillen Rüsselsheim; photograph: Danijel Sijakovic

Poppe und Martin teilen ihr Interesse für Dinge, die eine Zeit lang liegen gelassen wurden, die man aber wieder aufheben und neu bearbeiten kann. William Metin Martin etwa zeigt aus weißem Stoff genähte Kleidungsstücke nach historischen Schnittmustern, die mit bestimmten Vorstellungen von der Rolle des eingekleideten einzelnen Individuums in der Gesellschaft aufgeladen sind, etwa einen im Umfeld der futuristischen Bewegung von Ernesto Michahelles entworfenen Unisex-Jumpsuit. Aus dem Kontext genommen sind die Entwürfe von ihren ursprünglichen Konnotationen nicht befreit. Diese treten jedoch zurück, so dass sich in den durchscheinenden Textilien neue Besetzungen verfangen – mit möglichen Bedeutungen oder auch Akteuren, die die Kostüme auf einer noch zu schaffenden Bühne tragen könnten.
Eine zentrale Funktion hat die persönliche „Resterampe“, das eigene Archiv und Lager an Überresten aus früheren Produktionen und Recherchen. In der Ausstellung gibt es mehrere Nischen, welche der explizit unabgeschlossenen Anordnung „aufgepfropft“ sind wie Zweige, die auf neue Durchblutung, d. h. in diesem Fall installative Neuverknüpfung und Neu-Inszenierung, warten. So lagern im hinteren Bereich des Raums zusätzliche Materialien in Tüten – bereit, um ausgestellt zu werden, aber auch bereit, um unausgepackt wieder mitgenommen zu werden.
Das, was einmal beiseite gestellt wurde, so Martin und Poppe, gelte es ernst zu nehmen, zu reaktivieren, um die temporär stillgestellten Überschüsse an Energie und Material Triebe schlagen zu lassen. Diese „Nachlese“ des auf dem Feld der eigenen Betätigung Liegengebliebenen stehe dabei in Verbindung zu Agnès Vardas Dokumentarfilm Die Sammler und die Sammlerin (2000) über Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die übriggebliebene Lebensmittel und noch brauchbares Weggeworfenes von Stoppelfeldern, aus Supermarktcontainern oder am Straßenrand sammeln.

Esther Poppe & William Metin Martin, Skin...Order of Occurence and Things, installation view, 2018, Opelvillen Rüsselsheim; photograph: Danijel Sijakovic

Zwiebeln, Bohnen und Kartoffeln. „Es ist nicht mehr dasselbe“, sagt Poppe, wenn man ganz banale Dinge dazu bringt, in neuen Kontexten weiterzuwachsen, den gedanklichen Nährboden mit kunst- und filmhistorischen Anschlüssen zu teilen und gemeinsame Wurzelgeflechte mit kulturwissenschaftlichen Theorien und unvorhergesehenen visuellen Korrespondenzen auszubilden. Wo das Ganze hinwächst, ist dabei keineswegs vorgegeben. Nicht zuletzt passen sich sowohl die Wurzeln als auch Blüten und Blätter einer Pflanze stets ihren äußeren Bedingungen an, wachsen zu Nährstoffen, Licht und Wasser und verändern damit ihre Fundierung wie ihr Erscheinungsbild.
Auch der wie eine Referenzbibliothek ausliegende Bücherstapel mit Titeln aus den Queer Studies, zu utopischen Tendenzen in der Kunst, zu Hexen, Hippies und Affekten, ist primär ein Materialfundus. Tatsächlich aber sei dieser im Laufe des Arbeitsprozesses immer weiter in den Hintergrund getreten, zugunsten einer Lust, Dinge zueinander zu legen, die sich im Laufe der Ausstellung weiter verändern – wie die Kartoffel mit Seifenpfropfen, ein immer wieder anders in sich verknoteter Baseballschläger aus Latex, mal hier, mal dort drapierte Stoffe, Masken und Styroporstapel.
Man kann sich leicht verlieren im requisitenhaften Setting aus wachsenden und schmorenden Natur- und Kunststücken. Halt bietet ein Video, in dem alle der im Raum verteilten Gegenstände atmosphärisch zusammenfinden – ohne jedoch schlüssig ineinander aufzugehen. Vor allem sieht man reflektierende Oberflächen, später Masken, Körperteile, Augen, Hände, Füße. Menschliche Akteure tauchen im An- und Mitschnitt als von Bildschirmen abgefilmte Protagonisten auf. In der Tonspur kommen im Kontrast zur visuell zurückgenommenen Präsenz des Menschen viele Stimmen zusammen: Die Gesänge eines Muezzins, gedämpfte Musik, Gesprächsfetzen, scheinbar aus dem Radio, aus Vorträgen oder Filmen mitgeschnitten. Der Atem der die Field Recordings aufnehmenden Künstlerin, dazwischen An- und Ausschaltgeräusche des Recorders. Den akustischen Schnitt am Ende der geloopten Sequenz bildet der zugezogene Reißverschluss des Rucksacks, der die ganze Zeit über das Aufnahmegerät in sich barg.
Während der Sound kontinuierlich aus der medial vermittelten Distanz zu kommen scheint, zeigen die Bilder ihre Gegenstände aus nächster Nähe. Details im Spiel mit den Codes des kulturellen Gedächtnisses und des digital geprägten medialen Bewusstseins werden wichtig, alltägliche Griffe im Umgang mit den Dingen zeigen sich als potentielle Metaphern künstlerischer Handlungen, mögliche Bedeutungen verschieben sich wie durchscheinende Häute zueinander.

Esther Poppe & William Metin Martin, Skin...Order of Occurence and Things, installation view, 2018, Opelvillen Rüsselsheim; photograph: Danijel Sijakovic

„Was bedeutet es, wenn man etwas nicht mehr so genau sieht?“, fragt die Ausstellung, die sich verschiedener Bildsprachen künstlerischer und kultureller Vorgänger bedient, die im kollektiven Gedächtnis eine bestimmte, doch nicht immer klar und deutlich im Bewusstsein präsente Konnotation mit sich bringen. Was geschieht mit all den Bezügen im Editing-Prozess? Wie nehmen tagesaktuelle Ereignisse, stetig präsent durch unsere Anbindung an digitale Netzwerke, Einfluss auf die Art der Zusammenfügung des Gefundenen? Wie fügen sich Eindrücke von Katastrophen und Gewalt in eine künstlerische Produktion, die kein offensichtlich politisches, aktivistisches Thema hat und dennoch involviert in soziale Kontexte ist? Was tun beispielsweise die mitten im Video aufblitzenden Bilder der Gelbwesten in Paris zwischen all den poetischen Referenzen und mitunter knapp am Klischee und Kitsch vorbeischrammenden Experimenten mit Farbfiltern und Körperbildern?
Die Inkonsistenz der verschiedenen Spuren und Folgen – wobei diese Begriffe mehrdeutig als Tonspuren und Bildfolgen, als zu lesende Fährten und erst noch aufzulesende Konsequenzen für die Interpretation neuer Objekt-Kontext-Kombinationen, aufzufassen sind – bildet die durchaus stabile Basis des auf eigensinnige Weise queeren Ansatzes von Poppe und Martin.
Rucksack, Schlafsack, Plastiksack. „Es ist nicht mehr dasselbe“, denkt man beim Verlassen der Ausstellung. Hüllen und Behälter, in denen Dinge und Menschen Zeit verbringen. Was man hineinsteckt, eingepackt herumträgt, in was man sich hineingräbt, ist vielleicht nicht dasselbe, was man wieder herausnimmt, wo man herauskriecht, was man schon fast weggeworfen hätte und dann wieder neu sortiert.
Was man dann vor sich hat, muss man mit Humor nehmen. Der Umgang mit dem Vielsagenden und die Komik des Kryptischen liegen nah beieinander. Diese Dynamik aber ist es, die auch zum Weitermachen antreibt. Esther Poppe und William Metin Martin jedenfalls würden sich ein Lachen über die eigene Arbeit, über deren auratische Aufladung und intuitive Absurdität, nicht verkneifen. Und das zeigt, wie ernst es ihnen damit ist.
Skin...Order of Occurence and Things
Filmscreening & Reading
09. & 16. Dezember 2018
artists
Esther Poppe
William Metin Martin
Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim
Labor
Ludwig-Dörfler-Allee 9
65428 Rüsselsheim