PASSE-AVANT-Autor Philipp Lange hat sich auf dem Rundgang der Städelschule umgesehen und stellt uns hier 10 künstlerische Positionen vor, deren weiteres Schaffen unbedingt verfolgt werden sollte: Cudelice Brazelton, Ziva Drvaric, Sebastián Garbrecht, Kristina Lovaas, Tomás Maglione, David Moser, Nina Nadig, Andrew Wagner, Lydia Ericsson Wärn und Tomomi Yamakawa.
Cudelice Brazelton
Undergird, 2019 Cocoa Eyes, 2019 The Picker, 2019
Poren, Schnittwunden, Verbrennungen, Risse. Cudelice Brazelton erhebt menschliche Haut zum vordergründigen Material seiner großformatigen Collagen. Undergird ist ein Exempel für seine künstlerische Praxis, in der er seine eigene Haut abfotografiert und das gewonnene Bildmaterial neu zusammensetzt. In extremer Vergrößerung auf Leinen gedruckt, näht und klebt er Schicht auf Schicht. Die scheinbar starke und robuste Hautoberfläche wird jedoch durchdrungen, indem er in sie hineinschneidet oder sie durchbohrt. Damit referiert der Entstehungsprozess seiner Arbeiten die andauernde Exposition und die ständige Abnutzung des größten menschlichen und zugleich hochsensiblen Organs. Vor allem aber legt die „subtrahierte Collage“ dar, dass ein Blick von außen auch unter die Oberfläche dringt. Inwiefern zeichnet sich die Wahrnehmung von Hautfarbe und die ihr zugetragenen Bedeutungen auf das Individuum ab? Wenngleich Brazelton seinen eigenen Körper abbildet, geht es ihm jedoch nicht um das Portraitieren seines Selbst. Er macht vielmehr Gebrauch von dem, was uns Menschen am nächsten ist: unsere Zellen, unsere eigene Körperoberfläche. Das Erscheinungsbild ist derart verfremdet, dass es einem Blick in die unendliche Weite des Weltalls ähnelt.
Im raffinierten Zusammenspiel unterschiedlicher Materialien wie Textil und Leder feiert Brazelton in Cocoa Eyes die Ikonen der Black American Music. Es ist eine Hommage an seine Heimat, den Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, wo er die eigentliche Geburtsstunde des Rock’n’Rolls verortet. Er analysiert gesellschaftliche Machtstrukturen und wie sich kulturelle Aneignungen darin wiederfinden. Gegenstände der Körpermodifizierung wie Piercings oder Nieten setzt er gezielt als Verweise auf Subkulturen ein. In Undergird erinnert er in Form des Körperschmucks an eine Community aus Columbus, Ohio, die er als „black”, „punk” und „queer” bezeichnet.
„The currency of these buzzwords matters not to me. In Ohio it’s not en vogue or being consumed by art world trendsetters, no… It’s gritty, grimy, and we are thrown to the ground instantly by the police of the city, even if there is nonviolent protest, or just shot with the quickness.” – Cudelice Brazelton
Ziva Drvaric
Emptiness (projections of impossible ways of existing), 2020 Tolerance (embracing failure), 2020 Overcoming the state of feeling stuck, 2020
In Form von zwei ineinander stehenden Glasflaschen – ein surrealer Anblick – versinnbildlicht Ziva Drvaric ein Gefühl, das eintritt, wenn man sich von der Außenwelt abgeschnitten fühlt und der Bezug zur Wirklichkeit verloren scheint: Leere. Doch wie die leeren Glasflaschen im Boden versunken dastehen, wirken sie lediglich abgestellt und spiegeln damit eine Unzufriedenheit über diesen Zustand. Ziva Drvaric offenbart innere Seelenzustände, die wir alle kennen. Doch anstatt in dieser vermeintlichen Sackgasse stehen zu bleiben, findet sie Lösungen: in Tolerance (embracing failure) wird ein verschwommenes und daher zunächst als misslungen erachtetes Analog-Foto neu wertgeschätzt. Indem das Negativ(e) ins Positive übertragen wird, entwickelt die Künstlerin aus dem Scheitern eine neue Idee, anstatt sich der Resignation hinzugeben. Sie wendet das Photoshop-Tool „Tolerance“ an, um einem Algorithmus freie Bahn zu geben: das Zauberstab-Werkzeug wird üblicherweise gebraucht, um zusammenhängende Farbräume zu erkennen und diese zu bearbeiten. Bei Drvaric wird dieses Tool der Bildbearbeitung jedoch zu einem reinen Spiel mit dem Zufall. Aber wie viel Kreativität und Flexibilität wird benötigt, um dem Empfinden von Leere zu entkommen? Drvaric reflektiert die Frage mit Hilfe eines Büroutensils, das dabei hilft, Ordnung in unsere Gedanken zu bringen: drei überdimensionierte Büroklammern hat sie für ihre Skulpturen-Trilogie Overcoming the state of feeling stuck aus Stahl gefertigt. Indem diese derart verbogen sind, dass sie keine Papierblätter mehr zusammenhalten können, sind sie ihrer eigentlichen Funktion beraubt. Zugleich eröffnet dieser Zustand Spielraum für etwas Neues. Wie eine der Klammern mitten im Raum in Eigenbalance aufrecht steht, wirkt diese befreit von all dem Ballast, der ihr häufig anhaftet. Eine andere kann im wahrsten Sinne des Wortes nicht ohne Unterstützung auf eigenen Beinen stehen – nicht alles ist eben immer im Alleingang zu bewältigen. Die dritte im Bunde hängt mit ihrem Gewicht an einem Leitungsrohr und pausiert dort von jeglicher Anstrengung. Sich aus einem Gefühl der Stagnation zu entwinden, ist jederzeit möglich – Ziva Drvaric zeigt es uns in minimalistischer und poetischer Form.
Sebastián Garbrecht
Piezas domésticas para uso diario (Household parts for daily use), 2020
Sich Zeit nehmen. Reindenken. Eins werden mit dem Kunstwerk. Die Arbeiten von Sebastián Garbrecht, deren Hauptmaterial Pappmaché ist, zeugen von einer intensiven und internalisierten Auseinandersetzung mit den Konditionen von Malerei und der Suche nach einer Verschmelzung von Körper, Geist und Materie. Alte Zeitungen werden von Garbrecht als Werkstoff verwendet, um über langwierige Prozesse – einweichen, pürieren, färben, formen, trocknen – etwas Neues zu kreieren. So mutiert die einstige Informationsflut in Papierform zu fragilen und undefinierbaren Objekten, die sich nicht nur als Ausstellungsstücke, sondern auch in Form ihres meditativen Herstellungsprozesses oppositionell zu ihrem Ausgangsmaterial verhalten. Es scheint, als ob der Künstler hier eine körperliche Nähe zu dem Material hat, die er in der klassischen Malerei mittels Pinselauftrag so nicht finden kann. Wenngleich Garbrechts Ansatz aus der Beschäftigung mit Malerei rührt, lassen sich seine Arbeiten kaum mehr diesem Medium zuschreiben. Das einst bedruckte Papier wurde um zusätzliches Material wie Plastik oder Stoff ergänzt und dadurch so verwandelt, dass die Werke vielmehr Ähnlichkeiten zu Skulpturen aufweisen – und doch entziehen sie sich einer solchen Medienspezifik. Es ist ihr Eigenleben, das sie ungreifbar macht und zu Subjekten avancieren lässt. Die mentale wie physische Erfahrung bei der Herstellung hat sich derart in die Bestandteile des Werkzyklus’ eingeschrieben, dass diese selbst wie eigenständige Körper in Erscheinung treten. Schadhaft und empfindlich auf ihre Umgebung reagierend hängen sie in der Luft, mitunter bewegen sie sich leise. Garbrecht beschäftigt sich damit, wie wir die Gegenstände um uns herum nutzen – mit welcher Sorgfalt oder Belanglosigkeit. In manchen Kulturkreisen dienen kunsthandwerklich hergestellte Objekte als spirituelle Artefakte, die Wünsche erfüllen oder gewisse Eigenschaften verleihen sollen, wenn man sie benutzt. Schaut man auf die Piezas domésticas para uso diario (Household parts for daily use) von Sebastián Gabrecht, glaubt man beinahe, dass auch sie mit einer solchen Energie beladen sind.
Kristina Lovaas
Present, 2020 Our Dead Dog, 2020 Unbirthday, 2020
Kristina Lovaas’ Keramikzungen hängen schlaff aus der Wand heraus. Sie verleihen der Ausstellungswand die Fähigkeit der Wahrnehmung und einen eigensinnigen Charakter. Schmecken kann die Wand, ja sogar abtasten, was vor ihr ist. Vielleicht sieht sie auch und hält ihre Augen nur geschlossen, wenn wir hingucken. Ausgestattet mit dem Sprechorgan vermag uns die Wand sogar mitteilen können, wie die Räumlichkeit schmeckt, die sie unfreiwillig beherbergt. Was denkt sie über die Bilder, die ihr gewaltsam eingehämmert wurden? Und über uns, die stets ignorant an ihr vorbeilaufen? Offenbar will sie nicht mit uns sprechen. Das gibt sie jedenfalls zu verstehen, wenn ihre Zungen trocken und in passiver Haltung in den Raum ragen. Wie uns die Arbeit mit dem Titel Present vorführt, hat die Ausstellungswand eigentlich keine Lust auf die hochtrabende Stimmung hier, auch nicht auf uns und schon gar nicht auf Kunst. In so mancher Ecke hat sie wenigstens ihre Ruhe gefunden.
Die Arbeiten von Kristina Lovaas zeugen von einer Auseinandersetzung mit gleichermaßen morbiden und humorvollen Momenten. Ihre Kunst, die oftmals an unerhörten Orten platziert ist, will dezidiert stören: Torten landen auf dem Boden, ein überfahrener Hund – Our Dead Dog – liegt liebevoll drapiert mitten im Raum. Sorry, I ran over your dog. Hm, kann ja mal passieren. Zur Entschuldigung werden dekorative Kuchen gebacken – aus Keramik, versteht sich. Sie liegen ohne Glasur auf einer Decke aus, einige wurden in der Mitte in zwei große Stücke geteilt. Einst aus einem Teig entstanden, blicken sie nun in unterschiedliche Richtungen und scheinen aus einer unangenehmen Situation fliehen zu wollen. Dass sie aber versteinert wirken und die soziale Interaktion hier sichtlich fehlt, wirkt geradezu komisch, wenn man sich vor Augen führt, weshalb Kuchen überhaupt gebacken werden. Für Lovaas gelten die feinen Backwaren als „soziale Verträge“, die Menschen verbinden und Erwartungen wecken lassen. Alice in Wonderland (1865) inspirierte die Künstlerin zu diesem Arrangement, das sie Unbirthday nennt. Ihre Keramikobjekte amüsieren auf ähnlich absurde Weise wie die Geschichte von Lewis Carroll.
Tomás Maglione
When the world dissolves, 2017
Sechs auf einen Schaumstoffwürfel gesteckte Vogelfedern wehen durch den Stadtraum von Buenos Aires. In ihrer Gänze gleichen sie einem lebendigen Wesen, das ununterbrochen und unbekümmert umherschwirrt. In der Videoarbeit von Tomás Maglione verfolgt die Kamera dieses Etwas bei seinem Streifzug durch die windigen Straßen. Passant*innen und Autos bringen das gefederte Geschöpf in Lebensgefahr, doch es entkommt haarscharf jeder noch so bedrohlichen Situation, jedem Fußtritt und jedem rollenden Reifen. Es scheint auf der Suche nach einem Platz der Zugehörigkeit, der aber nicht auffindbar ist in einer Welt voller Asphalt, Dreck und Lärm. Angetrieben von einer Neugier auf das, was in der großen, weiten Welt vorzufinden ist, bleibt es auf der turbulenten Reise zuweilen stehen und betrachtet ehrfurchtsvoll die Fremdkörper, mit denen es sich konfrontiert sieht. Gelegentlich findet es Beachtung von Kindern, aber vor allem Missachtung von erwachsenen Menschen, die diesen Ort als ihr Revier zu definieren scheinen. Das unruhige Wesen beherrscht deren Sprache nicht, und so entweicht es jeder vereinzelten Begegnung. Untermalt wird das 23-minütige Geschehen durch eine künstliche Geräuschkulisse, die sich diesen Erlebnissen in der argentinischen Hauptstadt anpasst und die dabei empfundenen Stimmungen cartoon-artig zuspitzt. Gegen Ende des Films steht die Sonne tief, wie lang gezogene Schatten auf dem Boden zu erkennen geben. Mit der Sichtbarkeit eines Tagesverlaufs nimmt eine Gegebenheit der Natur Einfluss auf die Großstadterfahrung. In diesem Moment portraitiert sich der filmende Beobachter in Form seines eigenen Schattens. Doch bereits zuvor bemerken wir seine Anwesenheit, indem er seine Sorge um dieses Etwas, das aus seiner Feder stammt, zu erkennen gibt. Uns wird vor Augen geführt, dass es niemals alleine gewesen ist, sondern einen ständigen Begleiter hatte. Doch wer begleitet diesen? Und wonach sucht er? Die Fragen bleiben unbeantwortet, when the world dissolves.
David Moser
Memorial Drawings, 2019 Wipe out with whiteout and cover the holes, 2020
Wie lässt sich das Vergessen aufhalten? David Moser hat auf diese Frage scheinbar eine Antwort gefunden, denn seine Memorial Drawings sind von beständiger Dauer. Grund dafür sind die feuerfesten Rahmen, in denen die Zeichnungen liegen, und die somit eine Lösung für unser mangelhaftes Erinnerungsvermögen bieten. In der Regel werden diese Rahmen benutzt, um Fluchtpläne einzufassen und so erscheint es passend, das Moser seine sechsteilige Bilderserie in einem schmalen Fluchtweg präsentiert, der von der Städelschule zum Garten des Städel Museums führt. In jedem der übergroßen Rahmen sind die darin befindlichen Zeichnungen im Din A4-Format verrutscht. Das karierte Papier wird zwar durch die Rahmung geschützt, doch einen festen Halt hat es nicht gefunden. Unverkennbar stammt es aus einem handelsüblichen College-Block, dessen Seiten schon vorgelocht sind. Die Blätter ließen sich also abheften, doch ad acta gelegt würden sie wohl wieder in Vergessenheit geraten. Was soll hier festgehalten und sichtbar gemacht werden? Wieso ist jede Seite minimalistisch, fast kryptisch mit Permanent Marker bemalt?
Jedes der sechs Blätter ist einem ehemaligen safe space der queeren Community gewidmet – sechs Orte, die es heute nicht mehr gibt. Einige von diesen Bars, Clubs oder Saunas hat Moser selbst frequentiert, sei es in Berlin oder in seiner Heimat Zürich. Indem er ein Rechteck nach dem anderen mit dem beständigen Stift markiert, schreiben sich die Erinnerungen an diese Orte in gegebene Strukturen ein – man muss sie eben nur füllen. Der Herstellungsprozess gleicht einer Meditation und gibt den Orten den Raum, den sich der Künstler für das sonst Vergessene nehmen möchte. Dennoch wird das einfache Papier eines Tages verblassen, es scheint schon jetzt verloren vor dem eintönigen Hintergrund. Moser hat keinen Gedenkort, sondern vielmehr eine subtile Geste gegen den Verlust von Erinnerungen geschaffen. In Wipe out with whiteout and cover the holes bearbeitet er das Karo-Papier, indem er die Linien mit Tip-Ex auslöscht und die vorgestanzten Löcher mit Strasssteinen schmückt. Es ist eine Aneignung und Umformung von Normen, ein Verfahren, das dabei hilft, Geschichte umzuschreiben. Nicht zufällig ist jeder Memorial-Zeichnung eine andere Farbe zugeteilt. Wenn es jetzt brennt, bleibt der Regenbogen stehen.
Nina Nadig
Knobeln, 2020
Die drei Stahlrohr-Skulpturen von Nina Nadig sind nicht schwer als überdimensionale Geduldspiele zu identifizieren. Sie stehen mit ihrem gesamten Gewicht auf rostroten Matten, die gewöhnlich auf Spielplätzen oder in Sporthallen ausliegen, um den Fall abzufedern. Hier liegen sie in der weitläufigen Lichthalle der Städelschule als Grundlage aus. Sie schmiegen sich sanft und tetrisartig an die Sandsteinsäulen und verbinden sich dabei mit der Architektur. Was sich in Knobeln zunächst leicht zu erkennen gibt, stellt im nächsten Schritt jedoch eine größer werdende Herausforderung dar. Stahl ist hart, schwer zu biegen und robust, wenngleich Gebrauchsspuren sichtbar werden. Wie wäre es, das Spiel zu spielen? Wie viele Menschen bräuchte es, um die Objekte zu bewegen? Ließe sich der komplette Boden bausteinartig mit den Fallschutzmatten füllen?
An welche konkreten Gegebenheiten sich das Kunstwerk knüpfen mag, scheint schwierig zu ermitteln. Wer den einen Weg sucht, wie er jedem Knobelspiel zu Grunde liegt, wird diesen in Nina Nadigs Arbeit nicht finden. Stattdessen führt sie uns in einen Diskussionsraum, in welchem eine Vielzahl von Fragen in den Sinn kommen: Wieso darf das Spiel nicht ausprobiert werden? Etwa damit das Objekt unangefochten als skulpturales Kunstwerk betitelt werden kann? Oder ist der geschaffene Diskussionsraum das eigentliche Produkt, und das „Spielzeug“ nur ein Werkzeug, um zu weiterführenden Fragestellungen zu gelangen? Wer schon jetzt die Geduld verliert, befindet sich auf dem richtigen Weg. Man gerät an die Substanz und bald in die Leere, wenn man weiterknobelt. Das Nichts, das wir erreichen, wird plötzlich sichtbar: es liegt auf den Matten und es füllt den Raum. Es lauert zwischen den Kurven der Stahlrohre. Wir meinen, eine ganzheitliche Figur zu erkennen, doch auf der Suche nach schneller Erkenntnis trickst uns unsere Wahrnehmung geschickt aus. Der konstruktivistische Ansatz versinnbildlicht, dass Nina Nadig ihre Objekte auf clevere Art in weitgreifende Kontexte einzubetten weiß.
Andrew Wagner
Frische Erdbeeren and/or the Landlord’s Game, 2020
„L. and N. meet in Grünebergpark on a Sunday. It's their day off.” — Nach dieser schriftlichen Einblendung zu Beginn des 8-minütigen Kurzfilms nehmen wir teil an einem freundschaftlichen Zusammentreffen mit Frischen Erdbeeren – so der Titel des Videos. Die beiden Darstellerinnen L. und N. werden bei ihrem Picknick im Grünen von A. begleitet: Andrew Wagner. Seine Stimme erklingt, wenn er als Regisseur seine Darstellerinnen um Handlungen bittet und damit die filmische Inszenierung spielerisch offenlegt, sodass die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Die Kommunikation zwischen den drei Akteur*innen erscheint derart natürlich, dass sich Skript, Improvisation und Zufall kaum voneinander trennen lassen. Bei brütender Hitze verliert sich das Geschehen in der Zeit und in den sinnlichen Impressionen. Die Suche nach dem Sinn über das, was hier vor sich geht, wenn die Protagonistinnen aus ihren alltäglichen Rollen schlüpfen, erscheint durch das sprunghafte Aneinanderreihen der einzelnen Sequenzen obsolet und stellt den momenthaften Eindruck in den Vordergrund. So wird etwa das Brettspiel The Landlord’s Game gespielt, das Anfang des 20. Jahrhunderts von Elizabeth Magie Philipps nicht zuletzt mit einem moralischen Anspruch erfunden wurde. Demnach sollte auf didaktische Weise eine Kapitalismuskritik gelehrt werden. Das Spielfeld von The Landlord’s Game ist in der gleichnamigen Installation hinter dem Monitor aufgemalt und tritt somit als Mural überdimensional in Erscheinung. Im Video scheint es hingegen schnell wieder in Vergessenheit zu geraten, da sich L. und N. lieber an einem selbst erfundenen Spiel versuchen, das bald zu einem Streit führen soll. Humorvoll versteckt zeigt die Arbeit die Natürlichkeit von Machtgefügen am Beispiel zwischenmenschlicher Verhaltensmunster auf – ausgetragen im Park und auf einem Spielbrett, das in den 1930er Jahren von Charles Darrow adaptiert wurde. Es machte ihn reich, das weltberühmte Monopoly-Spiel, dessen Ziel darin besteht, mit dem Ausbau eines eigenen Imperiums die Mitspielenden in die Insolvenz zu treiben. In der letzten Szene filmt A. eine Biene, die den Nektar einer Blume aufsaugt. „L. and N. grow bored, and start to doze. It is a very hot day.”
Lydia Ericsson Wärn
Morning Walk, 2020 Evening Walk, 2020 Think of an identical twin, 2020
Die Arbeiten von Lydia Ericsson Wärn wirken so leicht, als würden sie im Raum schweben. Zwei großformatige Gemälde behindern unsere Sicht. Morning Walk versperrt den Zugang zu einem kleinen Nebenzimmer, indem es mitten vor dessen Zugangstür hängt, während sich Evening Walk vor einem Fenster befindet. Auf beiden Leinwänden sind menschliche Akte auf allen Vieren abgebildet, doch die Motive wurden gedreht, so dass die Figuren hilflos abzurutschen drohen. Fein ausgearbeitete Hände und Arme verschmelzen mit den abstrakt angedeuteten Körperpartien zwischen Kopf und Fuß. Die pastellfarbenen Flecken verraten uns erst in der Gesamtkomposition, um welche Körperteile es sich handelt. Teilweise lösen sich diese gänzlich auf, die Körper verschwinden im Weiß. Die große weiße Fläche wirkt zunächst wie ein Hintergrund, doch wer genau hinsieht, erkennt, dass vorherige Schichten überdeckt sind. Das Verschwindenlassen von einer einstigen Vielfalt an Farben wirft die Frage auf, wo sich der abgebildete Körper verortet – ein körperliches Verlustgefühl wird assoziiert. Zusätzlich kann die sperrige Hängung dazu führen, dass wir unsere eigene Körperlichkeit bewusst wahrnehmen. Sei es der verhinderte Blick aus dem Fenster oder das Aufsuchen eines Ausgangs – unsere Bewegungsgewohnheiten werden eingeschränkt.
Die dreiteilige Videoinstallation Think of an identical twin widmet sich ebenfalls dieser Auseinandersetzung und treibt uns spielerisch in die Irre. An drei Stellen im Raum sind kleine Kameras befestigt, deren Bilder live auf kaum größere Bildschirme übertragen werden. Allerdings befinden sich diese Elemente zueinander räumlich versetzt, sodass es uns nie richtig gelingt, uns selbst zu sehen. Die verzwickte Installation leitet unsere Körper durch den Raum, lässt uns bücken und strecken. Wie die Figuren der Walk-Serie suchen wir Halt, aber rutschen ab. Auf der Suche nach uns selbst wird unsere eigene Existenz plötzlich in Frage gestellt. Lydia Ericsson Wärn vermag die Suche nach Erkenntnis bildlich in einer ästhetischen Sprache einzufangen, die nur auf den ersten Blick leicht und zart wirkt.
Tomomi Yamakawa
coincidence 1, 2020 coincidence 2, 2020
Geisterhaft sitzen sie da, die Plastiktüten in den Baumkronen, die Tomomi Yamakawa fotografisch festhält und in Serie präsentiert. Haben sie sich verirrt oder suchen sie Zuflucht? Wollen sie uns etwas mitteilen? Man weiß es nicht, aber man findet sie überall, gerade jetzt im Winter, man muss nur genau hinschauen. Tomomi Yamakawa macht Alltägliches sichtbar, das, was sonst nicht lange Beachtung findet. Dabei scheint sie sowohl die Schönheit als auch die Absurdität festzuhalten, die unseren eigenen Taten und den Dingen um uns herum inhärent sind. Das prägt ihre konzeptuellen Arbeiten mit einer melancholischen Stimmung. So steht ein kleiner Ast aufrecht da und setzt als Baum im Miniaturformat die Fotoreihe fort. Sein Stamm klebt auf einem gläsernen Boden, um ihn herum Leere, umfangen von transparenten Glaswänden. Wenn sich die Tür zum Raum öffnet, weht der Wind ein kleines Plastiktütchen umher. Es ist eine Nachbildung des Szenarios, das ihr sonst als Fotomotiv dient. Wir beobachten das zunächst versteckte Schauspiel, bis die kleine Tüte in der Mini-Baumkrone sitzen bleibt. Das minimalistische Geschehen und die Offenheit des Werks erlauben die unterschiedlichsten Assoziationen, etwa aus der Filmwelt: sei es eine berühmte Szene aus Sam Mendes' American Beauty (1999), in der eine Plastiktüte vor roter Backsteinwand tanzt oder seien es die Baumgeister, wie sie in Studio Ghiblis Prinzessin Mononoke (2000) auftauchen, um Menschen in die Irre zu führen – individuelle Erinnerungen aus beinahe vergessenen Eindrücken werden wach gerufen. In einer anderen Arbeit mag man sich an kurze Videos erinnert fühlen, die über digitale Medien geteilt werden. Der Bildschirm der Videoarbeit coincidence 2 ist zweigeteilt, parallel loopt die gleiche Handlung: Ein Eichhörnchen klettert flink einen Baumstamm hoch. Yamakawa kombiniert hier fremdes und eigenes Videomaterial. Warum werden die Nagetiere gefilmt? Nehmen sie die menschliche Faszination wahr? Wenn man genau hinschaut, kann man glauben, dass sie sich bewusst darüber sind, dass sie für einen kurzen Moment im Mittelpunkt stehen.
Rundgang 14. – 16. Februar 2020
Städelschule Frankfurt Dürerstraße 10 60596 Frankfurt am Main